As if, at Home – ist das Europa?

 

As if, at Home – ist das Europa?

Im Friedrichshainer Box Freiraum präsentieren derzeit elf Künstler aus verschiedenen Teilen Europas ihre Antworten auf die Frage: Woraus entwickelt sich Identität?
Ein Plädoyer für die Freiheit von Helena Davenport.

As if, at home - photo credit: Raphael Mathes

Europa – was genau bedeutet das noch?

Auf der einen Seite Angst vor dem Andersartigen gepaart mit dem Wunsch nach mehr Nationalismus, auf der anderen Seite Panik, weil jederzeit alles zerbrechen kann. Großbritanniens Bevölkerung riskiert gerade einen gewaltigen Kollaps ihrer Wirtschaft, nur um aus der EU zu gelangen.

Ist das der Anfang vom Ende? Sind wir bald isoliert? Werden Flüchtlinge das Land besetzen?

Die Ausstellung „As if, at Home“ möchte Europa zeigen, aber diese Fragen stehen nicht im Vordergrund – und das tut so gut. Ein Wenn und ein Aber gibt es hier nicht. Der niederländische Kurator Jurriaan Benschop möchte zeigen, was Europa ist und was es kostbar macht.

Kurator Jurriaan Benschop, photo credit: Raphael Mathes

Nämlich Freiheit, die Freiheit zu reisen, sich zu finden, und zu verlieren. Allein ihretwegen konnte er elf sehr unterschiedliche künstlerische Positionen aus verschiedenen Teilen Europas im Friedrichshainer Box Freiraum versammeln. Es sind Videoarbeiten dabei, Skulpturen, Malereien, Zeichnungen und eine Fotografie. Die Künstler präsentieren ihre Antworten auf die Fragen: Woraus entwickelt sich Identität? Was macht individuell? Eine eigene Geschichte zu haben, ist für die meisten Menschen von großer Bedeutung. Man trägt die Herkunft von Ort zu Ort oder sie wird einem von Ort zu Ort hinterhergetragen. Im Box Freiraum treffen die Geschichten aufeinander und formen eine gemeinsame. „As if, at home“ – „Könnten wir immer so tun, als wären wir zuhause, könnte überall unsere Heimat sein“, sagt Jurriaan Benschop.

Am Anfang war die Kunst. Der Rahmen stand für Benschop an zweiter Stelle. Deswegen gibt es hier auch niemanden, der ein politisches Statement aufzwingen möchte, wenngleich die Positionen bestimmt sind. Am eindringlichsten aller Arbeiten ist wohl die von Šejla Kamerić aus Sarajevo – auf die man zusteuert, wenn man den rechten der beiden Ausstellungsräume, einst Stallungen des Fuhrunternehmers Otto Pohl, betritt. Über eine Porträtaufnahme ihrer selbst hat sie ein Graffiti, das ein UN-Soldat in Srebrenica hinterließ, gelegt: „No Teeth…? A mustache…? Smel like Shit…? Bosnian Girl!“

Šejla Kamerić  - photo credit: Raphael Mathes

Auch die Videoarbeit der Rumänin Irina Bucan Botea führt eingleisige Annahmen vor. Vier Amerikaner spielen vier Rumänen, die sich über das Amerikanische unterhalten. Erinnerungen schaffen hier die Identität und wirken gleichzeitig zerstörerisch. Wenn ab und zu ein Jetski vorbeisaust, wird die Situation gleich zweifach zur Parodie.

Schmunzeln muss man ebenfalls bei der Videoarbeit der estländischen Künstlerin Flo Kasearu. Sie präsentiert Aufnahmen einer Estländerin, die voller Elan ihren Alltag im neuen texanischen Zuhause via Youtube dokumentiert und so der Öffentlichkeit anvertraut hat. Mal stellt sie eine neue bunte Süßigkeit vor, mal rekelt sie sich neben dem Hund und schwenkt dazu die estländische Flagge. Aus ihren privaten Erfahrungen werden plötzlich Exempel für die noch junge estländische Unabhängigkeit und die Möglichkeit des amerikanischen Traums. Eine Marotte, die jedem bekannt vorkommen dürfte: man hat geschichtliche Fakten im Kopf und bezieht sie auf Zustände in der Gegenwart. Die Ausstellung thematisiert diese Angewohnheit wie eine Laune, eben ohne den Zeigefinger.Andere Arbeiten stellen europäische Identität in abstrakterer Weise vor, so wie die Bilder der Schweizerin Valérie Favre. Sie offenbaren die Auseinandersetzung der Künstlerin mit Motiven europäischer Meister. Warum sie bei ihrer Adaption von Goyas „Hexenflug“ den Blick auf die Handlung, die sich in den Lüften abspielt, konzentriert, bleibt offen.

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„Die griechische Malerin Lia Kazakou musste natürlich dabei sein wenn es um Europa geht, allein wegen ihrer Herkunft“, flachst Jurriaan Benschop. Ihre Werke zeigen Personen, aber nur Details und vorwiegend die Kleidungsstücke. Die Fragmente erinnern an das, was man morgens auf dem Weg zur Arbeit erhascht, wenn man in der Menge zum U-Bahnhof rast. Wobei die Details, die Kazakous Arbeiten zeigen, in ihrer Schönheit zu ruhen scheinen.

Das hier ist Europa, vielseitig und vielschichtig Jurriaan Benschop

Es ist schon eine sehr optimistische Art, derzeit auf Europa zu blicken. Aber dieses Vertrauen hat etwas sehr Belebendes. Das Ergebnis von Großbritanniens Referendum zeigt, dass die EU kein Selbstläufer mehr ist. Aber vielleicht bedeutet das auch, dass jetzt neue Herangehensweisen gefunden werden, dass sich alles neu anordnet.

Bei Norbert Biskys „2014“ fliegen die einzelnen Bestandteile eines oder mehrerer Komplexe, die wie von einem Tornado zerfetzt und in die Höhe getrieben wurden, auseinander. Apokalypse oder Neustart? Der Künstler wuchs in der DDR auf, umschlossen von Mauern. Sein Europa habe keine Grenzen, sagte er Benschop vor der Ausstellung.

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Der irische Maler Sean Scully, der am 30. Juni seinen 71. Geburtstag feierte, überwindet die Grenzen mit seiner Kunst. Derzeit genießt er große Aufmerksamkeit von Seiten Chinas. Er verkörpert etwas, das auch Europa auszeichnet, – die Mobilität. Bei seiner Arbeit „Landline Inwards“, die jetzt im Box Freiraum hängt, ziehen sich Streifen in Grün- und Blautönen horizontal über einen Aluminiumuntergrund. Es beruhigt.

Mit Angst lässt sich eben gar nichts erreichen

sagt Jurriaan Benschop. Noch ist Spielraum da.

AS IF, AT HOME – ARTISTS IN EUROPE

25. Juni bis 31. Oktober 2016

Gruppenschau mit Mirosław Bałka, Norbert Bisky, Michaël Borremans, Irina Bucan Botea, Valérie Favre, Ali Kaaf, Lia Kazakou, Marie Lund, Šejla Kamerić, Flo Kasearu und Sean Scully

Box Freiraum

Boxhagener Straße 96
im Hof der 93

10245 Berlin-Friedrichshain

Autor: Helena Davenport

Photo credit: Raphael Mathes