DIE BERLINZULAGE IM KÜNSTLERHAUS BETHANIEN

INTERVIEW  

DIE BERLINZULAGE IM KÜNSTLERHAUS BETHANIEN

Die aktuelle Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien und die dazugehörige Publikation BERLINZULAGE, geben einen fundierten und extrem interessanten Einblick in die legendären Jahre vor dem Mauerfall, sowie die wichtige Rolle des Künstlerhaus Bethanien. Dessen Kurator Christoph Tannert, lebt seit 1976 in Berlin, die ehemalige ARTBerlin Chefredakteurin Esther Harrison seit 1992. In diesem Gespräch werfen sie einen Blick zurück in eine Zeit, die so stark wie nie im Heute beschworen und in der Außenwahrnehmung zitiert wird. Die 80er und 90er Jahre, die Berlin und den damit einhergehenden Kult so stark geprägt haben, sind unbestritten präsenter denn je.
Gleichzeitig verabschiedet sich Esther Harrison mit diesem Interview von ARTBerlin.

Michael Hughes, Westberlin in den 1980er Jahren (Oranienstrasse) Copyright: Michael Hughes

Michael Hughes, Westberlin in den 1980er Jahren (Oranienstrasse) Copyright: Michael Hughes

Lieber Christoph, bitte erkläre uns als erstes was es mit dem Titel der Ausstellung, Berlinzulage, auf sich hat! 

Die „Berlinzulage“ war die Zulage, die jeder West-Berliner Arbeitnehmer zwischen 1971 und 1994 zusätzlich zum Bruttogehalt steuerfrei erhielt. Es handelte sich also um eine Art Frontstadt-Prämie, um Arbeitskräfte im eingemauerten West-Berlin zu halten oder anzulocken. Unsere Ausstellung wurde in einem Kuratoren-Trio erdacht. Anne Peschken und Marek Pisarsky sind die Auskenner mit Westblick. Ich habe meine Ost-Erfahrungen eingebracht.

Entstanden ist eine Kunstausstellung (keine kulturhistorische Schau politischer Nachhilfe), mit der wir jene künstlerischen Strategien präsentieren, die, von heute aus gesehen, Relevanz besitzen aufgrund ihrer experimentellen, abseitigen, ungewöhnlichen Perspektive, die den Mainstream herausgefordert und Gewissheiten in Frage gestellt hat.

Selbst wenn der Ausstellungstitel absurd klingt, die Teilung der Stadt war es auch.

Diesen Bonus offerieren wir, um der Klischeebildung entgegenzuwirken.

Christian Hasucha, JETZT, 1989, Dreiwöchige abendliche Performance mit Blitzlichtkasten (Gerüstsitz 300 x 250 x 150 cm) auf Fassadenkante in 15 m Höhe, Köln, Performer: Hans-Jörg Tauchert, Foto: Studio Hasucha, Berlin

Christian Hasucha, JETZT, 1989, Dreiwöchige abendliche Performance mit Blitzlichtkasten (Gerüstsitz 300 x 250 x 150 cm) auf Fassadenkante in 15 m Höhe, Köln, Performer: Hans-Jörg Tauchert, Foto: Studio Hasucha, Berlin

Was war der Auslöser, diese Publikation ausgerechnet jetzt herauszubringen?

Seit den 1990er Jahren hat es diverse Ausstellungen, Kataloge, Bücher zur Kunstszene West-Berlins gegeben und gerade in jüngster Zeit erfreuen sich literarische Betrachtungen sowie Fotobände zur Situation Berlins vor dem Mauerfall allgemeiner Beliebtheit.

Insofern ist das Berlin der Vorwendezeit ein heißes Thema und ein idealer Humus für Mythenbildungen.

Wir wollten mit unserem Projekt ein Korrektiv zu den bisherigen Behauptungen bilden, Fehlstellen und Übersehenes benennen und nicht das Bekannte erneut auftischen.

Raffael Rheinsberg, Gebrochen Deutsch, 1992/93 Zerbrochene Straßenschilder aus Ost-Berlin, ca. 1.770 Teile, 300 x 500 cm, Außeninstallation vor dem Martin-Gropius-Bau, Berlin, 1993 Foto: Jens Rönnau, Kiel

Raffael Rheinsberg, Gebrochen Deutsch, 1992/93, Zerbrochene Straßenschilder aus Ost-Berlin, ca. 1.770 Teile, 300 x 500 cm, Außeninstallation vor dem Martin-Gropius-Bau, Berlin, 1993 Foto: Jens Rönnau, Kiel

Gab es erst die Idee zur Ausstellung oder die Idee, alles in eine gebundene Form zu bringen, um auch zukünftig nachschlagen zu können?

Wir wollten schon eine Ausstellung machen, waren uns freilich bewusst, dass auf 500 qm kein Großprojekt entwickelt werden kann. Das jetzt Präsentierte ist ein Ausschnitt. Viele innovative künstlerische Ansätze und wichtige Projekträume konnten wir nicht berücksichtigen, deshalb haben wir zusätzlich ein Katalogbuch von 500 Seiten mit lesenswerten Beiträgen hervorragender Autoren und Autorinnen erarbeitet. Wenn jemand behauptet, die Ausstellung ist ein Appendix des Buches, dann würde ich dem nicht widersprechen können.

Hans Hemmert, german panther, 2007, Luftballons, Luft, Kleber, 300 x 370 x 960 cm, Installationsansicht Städtische Galerie Nordhorn, Foto: Helmut Claus, Köln

Hans Hemmert, german panther, 2007, Luftballons, Luft, Kleber, 300 x 370 x 960 cm, Installationsansicht Städtische Galerie Nordhorn, Foto: Helmut Claus, Köln

Berlin ist eine Stadt, die aus allen Nähten platzt, es gibt in Relation gefühlt nur noch einen Bruchteil der Leute, die „das alte Berlin“, also das Berlin der 1980er Jahre erlebt hat oder sich der damaligen Situation bewusst ist. Welche Bedeutung hatte das Künstlerhaus in Bezug auf die Kunstszene in West-Berlin in den 1980er Jahren? 

44 Jahre existiert das Künstlerhaus Bethanien nun schon und gehört damit zu den ältesten Künstlerhäusern der Welt. Michael Haerdter fokussierte im alten Bethanien-Krankenhaus am Kreuzberger Mariannenplatz von Anfang an auf die Trinität von Künstlerunterkunft, künstlerischer Arbeit und Präsentation, die auf Bildende Kunst, Theater, Tanz, Performance, Film, Video, Musik, Literatur, Stadtgeschichte und Phänomene des Urbanen ausgerichtet war, zur Anschauung gebracht in Werkinstallationen, diversen prozessualen Kunstformen und Modellen der Vermittlung.

Etwas Ähnliches gab es in dieser bewusst innovativen Zeichensetzung zu dieser Zeit in Deutschland nicht.

Entsprechend schnell machte das Künstlerhaus Bethanien mit seinem Credo von sich reden. Zu Gast waren etwa Koichi Ono (1977), Marina Abramović und Ulay (1982), Kazuo Ohno und Anzu Furukawa (1982), Olaf Metzel (1985), Samuel Beckett (1986), Die Tödliche Doris (1986), Ulrike Grossarth (1987), Jan Fabre (1988), p.t.t.red (1988), Boris Nieslony (1989), Junko Wada mit Hans Peter Kuhn (1989), Maria Eichhorn (1990), Eran Schaerf (1990), Shogo Ohta (1992) und Ryuji Miyamoto (1999).

Käthe Be, 1987 Schwarz-Weiß-Fotografie, 60 x 40 cm Foto: Roland Owsnitzki, Berlin

Käthe Be, 1987, Schwarz-Weiß-Fotografie, 60 x 40 cm, Foto: Roland Owsnitzki, Berlin


Eine lange Reihe aufsehenerregender Performance-Festivals setzte rigorose Akzente der Grenzüberschreitung.

Direktor Haerdter hat es verstanden, den Zeitgeist des Aufbruchs zu neuen Ufern, der in der Künstlerschaft präsent war und in den Kunstinstitutionen und auf den öffentlichen Plätzen herrschte, mit emanzipatorischen Kunstkonzepten zusammenzudenken und das Künstlerhaus Bethanien für 26 Jahre entscheidend zu prägen. Das sieht man der Ausstellung an. Alle Künstler_innen der Ausstellung hatten auf die eine oder andere Weise Kontakt mit dem Künstlerhaus.

Hans Hs Winkler, Telefonbuchinstallation in Telefonzelle, 1987, Kurfürstendamm, Berlin, Foto: p.t.t.red, Berlin

Und wie hat sich Euer Ansatz weiterentwickelt im Vergleich zu den Anfängen, was ist geblieben, was musste geändert werden und warum? 

Vor mehr als 40 Jahren waren wir ein „Supertanker“ mit einem Künstlerprogramm und einem opulenten Veranstaltungsprogramm. Seit dem Mauerfall, seit sich neue Institutionen für Tanz, Literatur und auch neue Künstlerprogramme in Berlin zu etablieren begannen, haben wir umgesteuert, um nicht länger Programmpunkte zu doppeln.

Aber nach wie vor sind wir den jungen Künstler_innen der Welkt verpflichtet.

Seit unserem Umzug im Jahr 2010 in die Kohlfurter / Kottbusser Str. haben wir repräsentativere Ausstellungsräume und mehr Künstlerstudios. Wir haben uns räumlich vergrößert, finanziell konsolidiert, unsere institutionelle Basis ausgebaut und das Programm geschärft, das heißt, im Kern sind wir auf die bildende Kunst orientiert, coachen wir „unsere“ Künstler, entwickeln wir Kontakte, Diskursteilhabe, Karrieren und produzieren Ausstellungen.

Ulrike Grossarth, Esther und Ruth, Lublin, 2016 Zeichnung auf Karton und Siebdruck auf Stoff, ca. 130 x 35 cm,Siebdruck: Irina Claußnitzer, Dresden Foto: Studio Grossarth, Lublin

Ulrike Grossarth, Esther und Ruth, Lublin, 2016, Zeichnung auf Karton und Siebdruck auf Stoff, ca. 130 x 35 cm,Siebdruck: Irina Claußnitzer, Dresden, Foto: Studio Grossarth, Lublin

Erzähle uns ein bisschen mehr zur Ausstellung selbst, den Künstlern, dem Konzept.

Ins Auge fällt die Abwesenheit von Malerei. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele der damaligen Innovationen im Bereich von Konzeptkunst, Skulptur, Kunst im urbanen Raum, performativen Interventionen, Sound und Super-8-Film.

Die Ausstellenden verbindet eine Distanz zur malerischen Wildheit, diesem Identischwerden mit dem randalierenden Pinsel.

Otmar Sattel, Grundlagen / Ballon, weiß, 2007, Wasser, Hefe, Zucker, Nährsalz, Metallkanister,Druckmesser,Kupferleitung, Ballon, Durchmesser: 60 cm, Höhe: 150 cm, Foto: Studio Sattel, Berlin

Otmar Sattel, Grundlagen / Ballon, weiß, 2007, Wasser, Hefe, Zucker, Nährsalz, Metallkanister,Druckmesser,Kupferleitung, Ballon, Durchmesser: 60 cm, Höhe: 150 cm, Foto: Studio Sattel, Berlin

Da ist einerseits Raffael Rheinsberg mit seiner Fundstücksicherung und den Abtastungen des Weggeworfenen. Künstler_innen entwickeln damals einen neuen Produktionsbegriff, der die Verfahren der Herstellung reflektiert und lange vor den heutigen Diskursen nach der Kontextualisierung fragt, z.B. Olaf Metzel, Eva-Maria Schön, Maria Eichhorn, Hans HS Winkler, Frieder Butzmann, Ulrike Grossarth, Fritz Balthaus, Christian Hasucha, Anne Peschken / Marek Pisarsky (Urban Art) und Thomas Schulz. Sie alle beginnen damit, Raum, Skulptur, Natur und die Elemente neu zu sehen, schaffen Versuchsanordnungen und reflektieren Grundkonstanten von Kunst bzw. forschen nach den Möglichkeiten ihrer medialen Erzeugung, wie z.B. die Gruppe „Material und Wirkung“, von denen wir zwei Vertreter eingeladen haben: Eberhard Bosslet und Otmar Sattel.

Christina Kubisch, Planetarium, 1988, 14 Lautsprecher, 400 m elektrisches Kabel mit fluoreszierender Farbe, 8 UV-Lampen, 8 x 11 m Wandfläche,Ausstellungsansicht Stanze del tempo, Centro Internazionale Brera, San Carpoforo, Mailand, Italien, Foto: Giacomo Oteri, Mailand

Christina Kubisch, Planetarium, 1988, 14 Lautsprecher, 400 m elektrisches Kabel mit fluoreszierender Farbe, 8 UV-Lampen, 8 x 11 m Wandfläche,Ausstellungsansicht Stanze del tempo, Centro Internazionale Brera, San Carpoforo, Mailand, Italien, Foto: Giacomo Oteri, Mailand

Gibt es etwas Besonderes, ein Highlight, einen unerwarteten Moment?

Die Klang-Experimentatorin Christina Kubisch untersucht seit 2003 elektromagnetische Felder und bietet extra „Electrical Walks“ an, damit  Besucher mit speziellen Kopfhörern einmal das hören bzw. erleben können, was uns ständig umgibt, ohne dass wir es wahrnehmen: Lichtsysteme, Transformatoren, elektronische Diebstahlsicherungen, Überwachungskameras, drahtlose Internetzugänge, Hochspannungsleitungen, Mobiltelefone, Computer, Bankautomaten, Antennen, Leuchtreklamen. Das ist ein erkenntnisreicher und auch ein bisschen beängstigender Kunst-Trip.

Frieder Butzmann, Die sieben rhythmisch angeordneten Rindsrouladen – Score for any kind and number of instruments, 2014, Fotocollage, 50 x 70 cm, Foto: Roman Liebe, Berlin

Frieder Butzmann, Die sieben rhythmisch angeordneten Rindsrouladen – Score for any kind and number of instruments, 2014, Fotocollage, 50 x 70 cm, Foto: Roman Liebe, Berlin

Du bist selbst in Leipzig geboren, in Dresden aufgewachsen und seit 1976 in Berlin, hast also einen sehr direkten und persönlichen Einblick der dich mit dieser progressiven Zeit verbindet. Gibt es ein Erlebnis, eine Ausstellung, Künstler, Anekdote die dir in diesem Zusammenhang dazu einfällt, prägnant ist?

Als ich 1976 an der Ost-Berliner Humboldt Universität zu studieren begann und auf der Straße die ersten westdeutschen Abiturienten traf, die mit ihren Klassen zum Tagesausflug nach Ost-Berlin kamen, hab ich mir schnellstens einen Falk-Faltplan von West-Berlin erschnorrt, weil ich passionierter „S-F-Beat“-Hörer war, damals noch mit Henning Vosskamp und Helmut Lehnert.

Und wenn dann von irgendwelchen Clubs und Locations in West-Berlin die Rede war, dann bin ich mit dem Finger auf der Karte gereist und hörte dazu die entsprechende Musik. Die abgedrehteste Quelle war aber John Peel auf BFBS. Der war ab Anfang der 80er Jahre Kult, weil er auch Tapes aus dem DDR-Untergrund spielte.

Und natürlich war Westfernsehen das wichtigste Medium, insbesondere das ARD-Magazin „Kontraste“ mit den Beiträgen von Peter Wensierski, „Kennzeichen D“, „Rockpalast“, in den 80ern dann „45 Fieber“.

Axel Lieber, Sockel mit Bildhauer, 2002 Foto: Susanna Hesselberg, Malmö

Axel Lieber, Sockel mit Bildhauer, 2002
Foto: Susanna Hesselberg, Malmö

Was relevant war im Ost-West-Überblick, erfuhr man über den Westkanal. Die Berliner Abendschau gehörte zum festen Tagesprogramm. Trotz der Mauer waren wir im Osten bestens informiert. Als ich im Winter 1989 ins LOFT zu MUDHONEY rannte, hatte ich das Gefühl, ich sei schon mal da gewesen. Wir Ostler lebten zwar hinter der Zeitmauer, aber kriegten trotzdem alles mit. Oftmals wussten wir mehr über den Westen als Westler über den Osten.

Und last but not least, was wünschst Du Dir, was die Stadt Berlin, der Senat, anders machen sollten, um Berlin als einzigartigen Standort für Kunst und vor allem auch den Widerstand und Boden für Diskussionen und kritische Kunstdiskurse zu erhalten bzw. wieder herzustellen?

Lange bevor von „Zwischennutzungen“ die Rede war, haben die Künstler_innen der „Berlinzulage“ im eingemauerten West-Berlin über „Lebensräume“ reflektiert und die Stadt gegen jegliche kommerzielle Verwertungsabsichten erkundet, den gelebten Raum verteidigt und neue Freiräume erobert.

Wir müssen heute neu trainieren, wirklicher zu werden, natürlicher, un-betonierter, raumgreifender und nicht nur ängstlich unseren Körper betasten, sondern die Stadt als unseren Leib begreifen.

BERLINZULAGE

Künstlerhaus Bethanien | Kottbusser Straße 10 | 10999 Berlin

Laufzeit: 24.08. – 16.09.2018
Di – So: 14 – 19 Uhr

Eintritt frei

https://www.bethanien.de