Nadine Barth: Bilder, die mir begegneten 

Stephen Shore: Chevron Tankstelle. Los Angeles, 1975

Die Chevron Tankstelle von Stephen Shore, Ikone der zeitgenössischen amerikanischen Fotografie, ist die Mutter aller Tankstellenbilder.

Was man sieht: eine Straßenecke. Ein paar Schilder, Ampeln, Autos. Blauer Himmel, warmes Licht, fertig. Und doch: Diese Straßenecke ist eine besondere Straßenecke. Wir sind in Los Angeles. Wir schreiben das Jahr 1975. Wir fahren auf La Brea, steuern auf die Hollywood Hills zu, kreuzen gleich den Beverly Boulevard. Zentral im Bild ist dieses Chevron-Zeichen, wie eine Schranke, die man hochklappen könnte, nur viel höher im Bild und fetter, auch die Buchstaben STAND springen einem entgegen, das Kastige der Überdachung dieser Tankstelle darunter, aufgefangen von dem Laternenmast, dessen Ende nicht mehr sichtbar ist. An der nächste Ecke wirbt Texaco, gegenüber McDonald’s. Fahren, tanken, fahren, essen, fahren, das Leben leben, an diesem Ort, irgendwo in Amerika.

Stephen Shore. Chevron Tankstelle©Stephen Shore, La Brea Avenue & Beverly Boulevard, Los Angeles, 1975. Courtesy Sammlung Moderne Kunst, Pinakothek der Moderne, München

Als Stephen Shore diese Aufnahme machte, war er 28. Erst. Schon. Mit 14 hatte er dem damaligen Direktor des MoMA, dem berühmten Fotografen Edward Steichen, seine Fotos gezeigt, und der hatte prompt drei Bilder für die Sammlung erworben. Mit 17 hatte er Andy Warhol kennen gelernt und war in dessen Factory eingezogen. Über seine Zeit dort erschien später „The Velvet Years. Warhol’s Factory 1965-67“ und bereits 1968 der Katalog „Andy Warhol“ zur gleichnamigen Ausstellung im Moderna Musset in Stockholm. Kurz vor seinem 24. Geburstag der Ritterschlag: Ausstellung im New Yorker Metropolitan Museum of Art. Das war 1971.

Wie das kam? Die Antwort ist einfach: Shore fotografierte in Farbe. Er tat dies zu einer Zeit, in der Kunstfotografie gleichbedeutend mit Schwarz-Weiß-Fotografie war. Farbe gehörte in den Hobby-Bereich, die meisten Prints waren von minderer Qualität, bekamen Farbstiche und verblassten, überhaupt, das 1:1-Abbilden der Realität ging gar nicht, wo blieb denn da der künstlerische Anspruch, die Transformation des Gesehenen in die Abstraktion. Dass gerade das Herausheben des Gewöhnlichen ein sehr dezidierter Kunstgriff sein kann, das begann mit Shore.

Stephen Shore: Uncommon places

Steven Shores Buch „Uncommon Places“, das 1982 erschien und eben diese gewöhnlichen Straßenecken, die Parkplätze und die Drugstores versammelte, das Garagentore zeigte oder Diner von innen, Menschen, die neben Telefonsäulen standen oder auf dem Sofa herumlagen, das war neu. Jeder Fotograf, der fortan durch Amerika zog und Straßenecken fotografierte, bezog sich auf Shore. Und jeder, der eine Tankstelle fotografierte, kannte die Chevron-Tankstelle. Zwar hatte Ed Ruscha schon 1963 „Twentysix Gasoline Stations“ herausgegeben, aber die waren in Schwarz-Weiß, außerdem eine Art Konzeptbuch. Shores Tankstellenbild ist konzentrierte Sozialisation. Es zeigt die Spuren, die Mensch in der Landschaft hinterlassen hat. Die Essenz des Fahrens. Das Alltägliche Voran. In Farbe.

Stephen Shore©Stephen Shore, Courtesy Sprüth Magers, Berlin

Text: Nadine Barth // Mehr zu Künstler