Schaubühne: „Westberlin“ wird trendy

Theaterkritik 

Schaubühne: „Westberlin“ wird trendy

Berlin ist 25 Jahre wiedervereinigt. Die Schaubühne beleuchtet mit der Eigenproduktion „Westberlin“ die Jahre 1946 bis 1990 davor. Ein Premierenbesuch.

Die Schaubühne inszeniert das hochpolitische Westberlin als schräges Kabarett.

Die „Insulaner“, so der flapsige Insidername für die Westberliner auf der ehemaligen roten Insel, präsentieren sich. Pünktlich zum 25-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung lässt Regisseur Rainald Grebe mit gecasteten Berliner Originalen und den Schauspielern der Schaubühne die Zeitspanne davor, 1946 bis 1990, Revue passieren.

Es ist Nacht, eigentlich früher Morgen. Die Uhr steht auf 4:15. Die Stühle liegen herum in der Bar. Ein später Gast räsoniert über das Verschwinden der besten Berliner Curry-Wurst und verschwindet selbst im Sarg unter der Theke, während der Kellner in Nebelschwaden in Memoria an Leo Borchard die erste Aufführung der Berliner Philharmoniker karaokemäßig dirigiert und hinter den Fenstern des Bühnenbilds (Bühne: Jürgen Lier) die Geister der Vergangenheit erscheinen. Aber es wird nicht dramatisch tragisch, ganz im Gegenteil.

Berliner Schaubühne: Westberlin

Zusammen mit dem Ensemble entwickelt Rainald Grebe eine witzige Revue, in denen die lässige, schnoddrige Art der Westberliner authentisch spürbar wird. Das hochpolitische Westberlin reduziert er auf schräges Kabarett. Ein Moderator, Spaßgott in luftiger Höhe, überall ortbar, führt zackig durchs Programm, konkurrierend mit einem TV-Moderator über „Berliner Straßen heute“ in ironischer Wiederholungsschleife. Das ist amüsant, vor allem für die älteren Westberliner, die in den schrillen Sequenzen auf der Bühne so manche Berliner Originale wiederentdecken, zum Beispiel den legendären Kellner Harry Hass oder Helga Goetze mit ihrer berühmten Ficken-ist-Frieden-Plakat.

Der Song „In dieser Stadt kenn ich mich aus. Wie sieht die Stadt wohl heute aus?“  wird zum Leitmotiv. Als Kontrast sitzt Evelyn, 84 Jahre alt, mit roten Haaren, über zwei Stunden fast pausenlos unverändert auf der Bühne und  darf am Schluss mit ihrem Traummann im weißen Anzug, der Regisseur höchst persönlich, noch eine Runde schwofen. Eine sentimentale Hommage an das alte Westberlin.

Berliner Schaubühne: Westberlin

Rainald Grebe blättert das alte Westberlin als Nummernrevue auf.

Kleine Rosinenfallschirme erinnern an Onkel Wackelflügel. Auf der Gangway stolzieren internationale und deutsche Promis zur Biennale. Die deutsch-amerikanische Freundschaft gebiert Kinder, die sich ihrer Privilegien in Westberlin erfreuen. Fluchtversuche werden zu Slapsticks. Der Mauerbau 1961 zur boulevardesken Lachnummer: hinter den Türen Beton, das Fensterglas eine unüberwindbare transparente Mauer. Die Erschießung Benno Ohnesorgs degradiert zum Modellspiel mit Messern und Gabeln auf Tischbänken. Dazwischen taucht Christiane F auf, um gleich wieder hinauskomplimentiert zu werden.

Auf der Kreisbühne zieht die Welt an Westberlin vorbei, inklusive Birkenwald aus Steins legendärer „Sommernacht“-Inszenierung. Gleichzeitig wird Westberlin zum Karussell der Extreme, vom Superleben in die Gosse, von der Kneipen-Queen zur Mutter mit vier Kindern. Die Lebensläufe schillern wie die schrägen Typen, die durch die Kneipe laufen, immer bunter, immer multikultureller. Westberlin entfaltet sich als rote Enklave der Linken genauso wie der Schwulen und Transvestiten. Die Normalos stehen Schlange bei der Wohnungssuche. Die Mieten, aus heutiger Sicht ein Schnäppchen schon damals unverschämt hoch.

Das Premierenpublikum zeigt sich amüsiert, klatscht begeistert, obwohl manche Szenen viel zu langatmig wirken, die Schockstarre des historischen Wahnsinns völlig fehlt. Das ist freundlich liebenswürdiges Entertainment, viel Berliner Flair, ein bisschen Satire, ohne den Biss der Satire.  

Weitere Termine: 12./13. Oktober 2015 sowie 23./24./25./26./29./30. November 2016
Schaubühne / Kurfürstendamm 153, 10709 Berlin

Text: Michaela Schabel // Fotos: Gianmarco Bresadola